Weihnachten damals und heute

Wilhelm Busch (1897-1966) wirkte für mehr als 35 Jahre als Pfarrer und Jugendpfarrer in Essen. Als einer, der sich vom Hass des NS-Regimes nicht mitreißen ließ und sich furchtlos zur Botschaft eines liebenden Gottes bekannte, kam er immer wieder in Konflikt mit den Nazis und fand sich manches Mal in dunklen Gestapo-Zellen wieder. Gegen Ende seines Lebens erinnert er sich an einige Weihnachtsfeste zurück…

Weihnachten 1930

Die Kinder sind zu Bett gebracht. Meine Frau räumt im Weihnachtszimmer auf und steckt neue Kerzen auf den schönen Weihnachtsbaum. Wir haben diesmal eine wundervolle Tanne bekommen. Ich habe sie mit viel Liebe geschmückt und mir dabei Gedanken über meine Weihnachtspredigt gemacht. Was ist das doch für eine gewaltige Botschaft, die ich morgen früh verkünden darf: Gott hat die Mauer, die uns von ihm trennte, umgeworfen und ist zu uns gekommen in Jesus.
Es war zu schön heute Abend, wie meine Kinder die lieblichen Weihnachtslieder sangen und dabei im dunklen Zimmer herummarschierten, während nebenan im Weihnachtszimmer die Mutter die Kerzen am Baum ansteckte. Endlich öffnet sich die Tür. Der Glanz der Tür bestrahlte die Kindergesichter. Und dann ging es mit Jubelgeschrei über die Geschenke her. Der Junge kennt ja nur seine Musik. Mit Begeisterung probiert er die neuen Noten gleich am Klavier aus. Die Kleinen vergnügen sich an der Puppenküche. Und die größeren Töchter verschwinden immer wieder, um das neue Kleid oder den neuen Pullover anzuziehen… Ja, wir sind glückliche Leute…

Weihnachten 1937

Diesmal habe ich den Baum nicht geschmückt. Ich habe es meiner Tochter Hannah überlassen. Sie hat es fein gemacht. Und nun sitze ich im Sessel, schaue in das Kerzengeflimmer und freue mich an der Freude der Kinder. Sie sind so glücklich an ihren Geschenken. Die Mädels haben jede eine Blockflöte bekommen und nun wollen sie ein wenig musizieren. Der große Bruder hat sich an das Klavier gesetzt. Die Schwestern stehen um ihn herum. Jetzt sind sie sich einig geworden, was gespielt werden soll. Wie schön erklingt das alte Weihnachtslied von Tazler „Es kommt ein Schiff, geladen…“. Die Jüngste allerdings ist an der Musik uninteressiert. Mit unendlicher Liebe widmet sie sich ihrer neuen Puppe.
Ich kann die Erinnerung nicht loswerden. Erst vor kurzem bin ich aus dem Gefängnis entlassen worden. Immer wieder sehe ich mich in der engen, scheußlichen Zelle. Alles war qualvoll: Das schlechte Essen, die dumpfe Luft, der rohe Umgangston. Aber am Schlimmsten war doch die fürchterliche Ungewissheit. Es war ja nicht so, dass ich etwas Schlimmes getan hätte. Aber ein Jugendpfarrer ist im Hitlerreich unerwünscht, und da wird er eben eingesperrt unter einem fadenscheinigen Grund. Es wird kein Verfahren eröffnet. Man sitzt in der düsteren Zelle und ist in der Menschen Hände gegeben. Man sitzt und wartet … wartet …
Jetzt spielen die Kinder mit Blockflöten und Klavier „Freuet euch, ihr Christen alle / freue sich, wer immer kann / Gott hat viel an uns getan…“ Ich muss mitsingen – aus Herzensgrund. Ja, ich kann mich freuen. Ganz neu habe ich es im Gefängnis gelernt, als da der lebendige Herr, der einst von den Toten auferstanden ist, in meine schreckliche Zelle kam. Ja wirklich, so war es. Er kam zu mir und ich erlebte das, wie ein altes Lied sagt „Als mir das Reich genommen / da Fried und Freude lacht / da bist du, mein Heil gekommen / und hast mich froh gemacht…“
Meine Jüngste strahlt mich an. „Papa, freust du dich?“ „Ja, mein Kind, ich freue mich gewaltig.“

Weihnachten 1943

Wir sind wieder unter dem Weihnachtsbaum versammelt. Es war diesmal sehr schwierig, Kerzen zu bekommen, denn es ist Krieg und alles ist knapp geworden. Und der Gesang will auch nicht so recht klingen. Es fehlt unser Klavierspieler, der in den vergangenen Jahren unser Singen so herrlich begleitet hat, unser Junge. Sie haben ihn zum Soldaten gemacht und nun ist er irgendwo in Russland. Immer wieder will das Herz sich aufbäumen. Was hat dieser zarte Junge von 18 Jahren mit diesem ungerechten Krieg zu tun? Nun soll er kämpfen für einen Staat, der seinen Vater ins Gefängnis gebracht hat.
Ich bin froh, dass die Kinder sich unbeschwert freuen können. Aber wenn ich meine Frau ansehe, dann weiß ich, dass das Mutterherz den fernen Sohn sucht.
Wie viele werden heute Abend wohl so bedrückt sein? Und es ist ja nicht nur der Sohn. Wir fühlen deutlich, dass wir großen Katastrophen entgegengehen. Wie soll dieser fürchterliche Krieg ausgehen? Der Hass der Welt hat sich um uns Deutsche aufgebaut wie eine grauenvolle Mauer. Und morgen kommt vielleicht wieder der Beamte der Geheimen Staatspolizei, um mich fortzuholen in eins der düsteren Gefängnisse. Wer kann denn da Weihnachten feiern?
„Papa! Lass uns doch ein wenig singen!“, sagt das kleinste Töchterlein. Und dann singen wir „Welt ging verloren, / Christ ward geboren: / Freue, freue dich, o Christenheit!“ Wie bekommt solch ein Lied einen ganz neuen Klang! Ja, wir haben einen Heiland. Das verkündet uns Weihnachten. Wir wollen uns freuen. Wir haben Grund genug. Wir haben einen Heiland!
Kurz nach Weihnachten kam ein Brief aus Russland. Da berichtet der Junge, wie er am Weihnachtsmorgen in einer russischen Stadt in einem verwüsteten Haus ein Klavier gefunden hat. Und da hat er die Weihnachtslieder gesungen und gespielt – ganz allein. Und er schrieb: „Mir wurde klar: Das ist die Lage der Christen heute – mitten im Chaos singen sie das Lob des Sohnes Gottes, der uns an Weihnachten geschenkt wurde. Mit Freuden habe ich dann ganz still die Geschichte von der Geburt Jesu gelesen, so wie sie im Lukasevangelium steht.“ So schrieb er.
Wenige Tage später kam die Nachricht, dass er in einem Lazarett verblutet ist…

Weihnachten 1944

Es ist, als wolle die Welt untergehen. Der Krieg geht seinem schaurigen Ende entgegen. Unser liebes Pfarrhaus ist zerbombt und verbrannt. Wir haben eine neue Wohnung gefunden. Es sind zwar keine Pfannen mehr auf dem Dach. Und an Stelle der Fensterscheiben haben wir einen Werkstoff, der bei jedem neuen Angriff davonfliegt. Dann wird notdürftig wieder repariert. Ich habe ja viel Zeit. Die meisten Menschen sind aus dem Ruhrgebiet geflüchtet. Ich halte jeden Tag in irgendeinem Keller eine Bibelstunde.
Ja, so ist es: Gerade jetzt zeigt das Evangelium seinen Glanz. Je dunkler die Nacht, desto heller leuchten die Sterne. So ist es mit dem Evangelium. Darum wollen wir Weihnachten feiern – trotz aller Traurigkeit.
Wir haben sogar ein paar Geschenke aufgebaut und die tüchtige Mutter hat einiges Festgebäck zustande gebracht. Es ist zwar hart wie Stein, aber es ist doch Festgebäck. So stehen wir um den Weihnachtsbaum und singen unsere lieben Lieder. Dann lese ich die Geschichte von der Geburt Jesu und danke mit den Meinen dem Herrn Jesus, dass er gekommen ist in diese arge Welt, die Sünder zu erretten. Gerade in dem Augenblick heulen die Sirenen los. Die Kinder packen das Luftschutzgepäck, das immer bereit liegt und rennen zum Bunker, der 5 Minuten von unserem Haus entfernt ist. Langsam lösche ich die paar kümmerlichen Kerzen. Ob wir wohl in einer Stunde diese Wohnung noch vorfinden werden? Oder ob da nur noch ein Trümmerhaufen sein wird? Nun, was tuts! Der Herr Jesus, der an Weihnachten geboren wurde, hat uns eine unzerstörbare Heimat geschenkt am Herzen Gottes. Und so wandere ich dem Bunker zu und summe fröhlich ein Weihnachtslied.

Weihnachten 1958

Nun sind die Kinder groß. Einige von ihnen fehlen. Sie haben geheiratet und feiern in einer eigenen Familie das große Fest.
Ich sitze und schaue in den Kerzenschein des wundervollen Weihnachtsbaumes. Auf den Tischen türmen sich herrliche Geschenke. Wir sind ja nicht mehr arm. Und es ist fast beängstigend, wie die Liebe uns überschüttet mit Weihnachtsgaben.
Während ich in das Kerzengeflimmer schaue, überkommt mein Herz eine große Ruhe und Freude. Wir haben es gelernt, dass Freude nicht aus den vergänglichen Dingen kommt. Sie muss andere Quellen haben. Und gerade das Weihnachtsfest zeigt ja die unerschöpfliche Quelle der ewigen Freude. Und mein Herz singt mit, als nun meine Familie den Vers anstimmt „Siehe, siehe meine Seele / wie dein Heiland kommt zu dir…“ Das ist es! Daran will ich mich freuen, solange ich lebe. Und wenn ich einst die Augen schließe, will ich ewige Weihnachten feiern im Anschauen meines Heilands.

Aus: Busch, Wilhelm: Kennen Sie Hömpel? (Wilhelm Busch Bibliothek 1), Neukirchen-Vluyn 2006.

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